Werner Biermann

Konrad Adenauer. Ein Jahrhundertleben

Als Kind der 1950er-Jahre war Konrad Adenauer einer meiner Helden. Die Medienpolitik des ersten Kanzlers hat bei mir nachhaltig Spuren hinterlassen. Meine Eltern hatten schon sehr früh einen Fernseher. Ich erinnere mich an Bilder mit Adenauer im Urlaub in Cadenabbia am Comer See beim Bocciaspiel oder anlässlich einer Privataudienz mit Papst Pius XII., mit Charles de Gaulle, John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow, mit Königin Elizabeth II.

 

Bilder, die sich bei mir festsetzten: Adenauer hielt sich immer aufrecht, war immer korrekt gekleidet und galt als alter weiser Mann, der den Deutschen gemeinsam mit Ludwig Erhard ihr Wirtschaftswunder bescherte und sie mit klugen und sorgfältigen Schachzügen nach dem 2. Weltkrieg wieder in die Völkergemeinschaft eingliederte.

 

Die Biographie von Werner Biermann verschlang ich binnen weniger Tage in einem Zug. Es war faszinierend, wie die Darstellungen mich an Altvertrautes und Miterlebtes erinnerte. Der Autor, ehemaliger Stern-Redakteur, ließ mich Vorkommnisse aus den 50er- und 60er-Jahren noch einmal miterleben. Gleichzeitig nahm er mich immer wieder mit in die tagespolitischen und globalen Hintergründe. Akribisch recherchiert, fesselnd geschrieben und mit vielen Anekdoten gewürzt leuchtet er das Leben des immer noch wichtigsten deutschen Politikers der Nachkriegszeit auf 654 Seiten gründlich aus.

 

Adenauer wurde von seinem Vater, einem preußischen Kriminalrat, mit strenger katholischer Zucht und sparsamer Lebensführung zu einem preußischen Beamten erzogen. Nach dem Jurastudium, das er nur mit einem für ihn selbst nicht zufriedenstellenden „genügend“ abschloss, wurde er relativ schnell Beigeordneter in Köln. Über die Familienbande seiner ersten Frau, Emmy Weyer, die gewissermaßen dem Kölschen Hochadel angehörte, ergab sich nach wenigen Jahren die Chance, Oberbürgermeister von Köln zu werden, die er mit der ihm eigenen Chuzpe nutzte.

 

Zum Schaden der Stadt sollte es nicht sein. Im Gegenteil. Adenauer erwies sich als Oberbürgermeister, dem die Interessen der Stadt und seiner Bewohner:innen sichtlich am Herzen lagen. Wer sonst wäre auf den Trick verfallen und hätte es gewagt, kurz vor dem Einmarsch der französischen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg mehrere Hunderttausend Liter Wein und Branntwein in den Rhein zu schütten und so die Kölschen Mädchen und Frauen vor den alkoholischen Exzessen einer entfesselten Soldateska zu bewahren?

 

Adenauer war der erste, der für betagte Kölner Wohnungen für ein betreutes Wohnen bauen ließ. Vor allem aber setzte er städtebauliche Akzente, die bis heute das Stadtbild prägen. Er ließ den Ring als Prachtstraße anlegen, kaufte den Festungswall auf und legte einen Grüngürtel mit Teichen und Seen an, der den Bürgern offenstand. Bis heute ist die grüne Lunge von Köln eine Oase, gerade in Zeiten, in denen sich die Städte immer mehr aufheizen. Allerdings: Die Kosten seiner städtebaulichen Maßnahmen interessierten Adenauer nur wenig; das Geld mussten seine Beigeordneten heranschaffen.

 

1928 hätte ihn eine unselige Finanzspekulation fast die politische Karriere gekostet. Adenauer hatte auf Empfehlung seines Freundes Pferdmenges und anderer Vorstände der Deutschen Bank mit geliehenem Geld Aktien der Glanzstoff AG erworben, deren Wert bald in den Keller fiel. Adenauer war nach dem Kurssturz pleite. Über Vermittlung von Freunden gelang es ihm, zwei Aktienpakete zu erwerben, die er zum Ausgleich seines Kontos einsetzen konnte. Als Lokalpresse und Stadtrat die Diskussion über die Finanzschwierigkeiten des Oberbürgermeisters eröffneten, konnte der ein Schreiben der Deutschen Bank vorlegen, das ihm ein ausgeglichenes Konto bescheinigte.

 

Warten auf die Chance

 

Auch wenn seine Stadtplanung den späteren Reichskanzler Adolf Hitler beeindruckte, machte Adenauer aus seiner Verachtung des religionsfeindlichen und menschenverachtenden Gebarens der Nazis kein Geheimnis. Als er des Amtes enthoben wurde und Köln verlassen musste, flüchtete er sich zu einem Schulfreund, dem Abt des Klosters Maria Laach, den er als Schüler auf dem Kölner Aposteln-Gymnasium zum Lebensfreund gewonnen hatte, und hielt sich für seine Chance bereit. Die kam mit der Kapitulation am 8. Mai 1945.

 

Adenauer hatte sich während der Kriegsjahre aus der Politik rausgehalten. Als er von Bonhoeffer und anderen Widerständlern auf das geplante Attentat angesprochen wurde, ging er auf Distanz. Ihn störte vor allem, dass die beteiligten Personen zu wenig nach vorne dachten. Die Widerständler schienen ihm eher Junker, die das alte Preußen mit seinem Kaisertum wiederbeleben wollten. Er selbst hatte ganz andere Vorstellungen. Das Alte sollte vergangen sein und in der Stunde Null Neues in Angriff genommen werden. Seiner Meinung nach lag die Zukunft in einem demokratisch gefestigten, auf Frieden bedachten Deutschland.

 

Als es für die Siegermächte nach Kriegsende darum ging, den Neuaufbau Deutschlands zu organisieren, fiel der Blick schnell auf Adenauer. Er galt als nahezu unbefleckt von den Nazi-Exzessen, war ein alter Hase im Politikgeschäft, hatte sich in seiner Zeit als Oberbürgermeister als durchsetzungsfähiger Gestalter Anerkennung verschafft und war ein vehementer Verfechter eines demokratischen Staates. Und er ging die Dinge pragmatisch an: In den ersten Tagen nach Kriegsende hatte Adenauer mit seinen Weggefährten dafür gesorgt, dass im vollkommen zerstörten Köln bereits am 1. Juni 1945wieder eine Straßenbahn fuhr.

 

Zeit des Wiederaufbaus

 

Als erstes überzeugte Adenauer die Siegermächte davon, dass die unselige Demontage von Maschinen und Fabriken eingestellt werden müsse, damit Deutschland sich wieder aufrappeln könne. Außerdem war er ein vehementer Verfechter eines Stopps der Kohle-Exporte als Kriegsschuld, während Frauen und Kinder erfroren. Damit machte er sich keine Freunde bei der britischen Militärregierung, die ihn am 4. Mai 1954 als Kölner Oberbürgermeister eingesetzt, aber bereits am 6. Oktober, also nur fünf Monate später, wieder abberief.

 

Am 6. Januar 1946, feierte er seinen 70. Geburtstag demonstrativ als großes Fest und als gesellschaftliches Ereignis in seinem Rhöndorfer Domizil:

Adenauer ruft sich damit auf einen Schlag bei denen ins Gedächtnis, mit denen er in Zukunft zusammen Politik machen wird. Zu seinen Gästen zählten an diesem Tag unter anderem der spätere NRW-Ministerpräsident Karl Arnold sowie die christlich-sozial eingestellten Johannes Albers, Christine Teusch und Max von Gumppenberg. Zudem kam sein Freund Robert Pferdmenges mit seiner Frau Dora, der Kölner Erzbischof und spätere Kardinal Frings und der Schweizer Generalkonsul, der wie bei jedem Besuch bei den Adenauers Schweizer Schokolade für die Kinder mitbrachte. Natürlich war auch Adenauers Lieblingschauffeur, Schumachers Hein, mit Adenauers Horch zur Stelle, um die Gäste angemessen zu kutschieren. Es gab Alkoholisches, Kartoffel- und Heringssalat, Bohnenkaffee und Kuchen.

 

Vom Lokalpolitiker zum Bundespolitiker

 

Bereits in den Jahren der Weimarer Republik war Adenauer mehrfach als Kandidat für das Amt des Reichkanzlers im Gespräch gewesen. Insofern war sein Weg vom Lokalpolitiker zum Landes- und Bundespolitiker folgerichtig. Und den verfolgte er systematisch. Er war nicht nur Mitgründer der CDU, sondern beteiligte sich maßgeblich an der Formulierung der Parteiprogramme und wurde 1946 Mitglied und Fraktionsvorsitzender seiner Partei im ersten Landtag Nordrhein-Westfalens. Ab 1948 nutzte er seine Position als Präsident des Parlamentarischen Rats dazu, zur unverzichtbaren Stimme im Politikbetrieb, auch gegenüber den Alliierten, zu werden. Bei der ersten Bundestagswahl am 14. August 1949 holte er im Wahlkreis Bonn Stadt und Land das Direktmandat, was ihm bei allen späteren Wahlen ebenfalls gelang. Eine Woche später machte er klar, dass er auch Kanzlerkandidat der Unionsparteien wurde. Am 1. September 1949 wurde er zum Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagfraktion gewählt. Gegen den Widerstand aus den eigenen Reihen, setzte er eine Koalition der CDU/CSU, FDP und DP durch. Am 15.September wurde er mit 202 von 404 Stimmen zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt.

 

In seinen Kanzlerjahren verfolgte Adenauer vor allem zwei Ziele. Erstens: Die Bundesrepublik zu einem souveränen Staat zu machen, was ihm mit der Unterzeichnung der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 und der Aufhebung des Besatzungsstatus gelang. Zweitens: Die Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland sollte in eine Zusammenarbeit dieser beiden Nationen münden. Zeitweise glaubte er, er könne dies mit der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG erreichen, die von Frankreich an ihn herangetragen wurde. Er organisierte in Deutschland die Unterstützung seitens der SPD und war zutiefst enttäuscht, als Charles de Gaulle das Projekt beerdigte.

 

Der größte Coup gelang Adenauer, als er im September 1955 in Moskau Nikita Chruschtschow dazu brachte, die knapp 10.000 noch in Gefangenschaft befindlichen deutschen Soldaten bis zum Jahresende heimkehren zu lassen. Biermann beschreibt in der Biographie liebevoll genau, wie geschickt Adenauer gemeinsam mit Carlo Schmid die Gunst der Stunde nutzte. Fast wäre alles gescheitert, weil Adenauer Zugeständnisse an die DDR gewähren sollte, aber Russland ihm keine schriftliche Zusage geben wollte. Adenauer verließ sich auf das Wort von Chruschtschow und behielt recht. Ganz Deutschland lag ihm wenige Wochen später zu Füßen, und bei der Bundestagwahl 1957 erzielte die CDU die absolute Mehrheit.

 

Es ist Adenauer verdanken, dass Deutschland zu einem demokratischen, friedlichen und wohlhabenden Land geworden ist. Für mich ist er auch und erst recht einer meiner Held:inn:en der deutschen Geschichte.

 

- Peter -

 

Werner Biermann
Konrad Adenauer. Ein Jahrhundertleben
Rowohlt, Berlin 2017
ISBN: 978-3-7371-0006-9