Hans-Peter Canibol, Susanne Theisen-Canibol (Hrsg.)

Kommunikation in unübersichtlichen Zeiten

Vor dreißig Jahren prophezeite der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, dass mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbrechen der sowjetischen Einflusszone und mit dem Triumph der liberalen Demokratie das Ende der Geschichte erreicht sei. In seinem neuen, Buch Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet „sucht Fukuyama nach Gründen“, so lesen wir auf dem Klappentext, der das Buch wunderbar zusammenfasst, „warum immer mehr Menschen sich von Autokraten angezogen fühlen und die Demokratie als gescheitert betrachten.“ Dabei gehe es weniger um materiellen Wohlstand als vielmehr um das Verlangen nach Würde. Der Autor „zeigt, warum die Politik der Stunde geprägt ist von Nationalismus und Wut, welche Rollen die linken und rechten Parteien bei dieser Entwicklung spielen und was wir tun können, um unsere Identität und damit die liberale Demokratie wieder zu beleben“.

 

Fukuyama greift damit ein Thema auf, das viele bewegt, denen das gesellschaftliche Miteinander am Herzen liegt. Denn eines wird deutlich: Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist in Frage gestellt. Werte werden nicht mehr unbedingt geteilt. Leitmedien haben ihre Funktion verloren – ihre Position als vierte Macht im Staat wird angegriffen, manchmal sogar tätlich. Die alten politischen Kräfte verlieren an Einfluss. Europa ist für weite Kreise keine Verheißung mehr für Frieden und Wohlstand, sondern ein Schimpfwort. In größerem Rahmen Konsens herzustellen, wird immer schwieriger. Man kann den Eindruck gewinnen, dass allein große Sportgroßereignisse identifikationsstiftend zu sein scheinen, solche, hinter deren Erfolg mit weltweiter Bedeutung man sich versammeln kann. Aber auch das funktioniert nur noch in Grenzen. Was ist nur los mit uns? Halten wir uns nach 74 Jahren Frieden in Europa für unverwundbar? Wie verletztbar wir sind, legt Putins Krieg gegen die Ukraine offen.

 

Notker Wolf, 2000 bis 2016 neunter Abtprimas der benediktischen Konföderation, zitiert in seinem Buch „Das Unmögliche denken, das Mögliche Wagen. Visionen für eine bessere Zukunft“ den Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld, der über das entstandene Kommunikationsvakuum sagt: „Das Markenprofil großer Volksparteien ist kaputt.“ Aber das reicht kaum als Diagnose.

 

Die Zeiten, in denen dem Volk par ordre du mufti verkündet wurde, wie man sich gefälligst zu verhalten habe, sind lange vorbei. Heute sehen wir etwas, das mal mit Schwarmintelligenz, mal mit alternativen Medien, mal mit Community umschrieben wird. Die Bürger hinterfragen die Glaubwürdigkeit der etablierten Meinungsführer so kritisch wie noch nie und verlassen sich tendenziell eher auf das, was Menschen sagen, die sie kennen oder zu kennen glauben. Die sozialen Medien mit ihren speziellen Mechanismen machen es möglich, dass man sich ausschließlich in seiner Echokammer bewegen kann, in der die eigene Meinung bestätigt und verstärkt wird, andere Meinungen hingegen gar nicht mehr auftauchen oder als „Angriff“ angesehen werden. Noch bis vor wenigen Jahren erfolgten kommunikative Maßnahmen im politischen Raum auf der Basis von Meinungsforschung. Wahlergebnisse ließen sich relativ genau vorhersagen. Heute treffen Wähler ihre Entscheidungen mitunter erst kurz vor Abgabe der Stimmzettel in der Wahlkabine. Die Aufregung um das Video des YouTubers Rezo ist uns allen noch präsent – lassen wir mal dahingestellt, ob es wirklich das Wahlergebnis nachhaltig beeinflusst hat.

 

Wie funktioniert Meinungsbildung in Zeiten einer atomisierten Medienlandschaft, in der Fakten und Meinungen miteinander verschmelzen und in der Meinungsbildner es zum Geschäftsmodell machen, mit der Spaltung der Gesellschaft zu spielen? Wir wirkt sich Schwarmintelligenz aus? Verlagern sich Meinungsbildungsprozesse zukünftig auf eine Vielzahl von Communities, die geleitet durch nicht immer rationale Kriterien ein Zusammengehörigkeitsgefühl oder gemeinsame Identitäten entwickeln, und diese als lautstarken Protest nach außen tragen, wie beispielsweise in Frankreich die Gelbwestenbewegung. Sie definieren sich durch ein unbestimmtes Unbehagen, beklagen Globalisierung und ein Defizit an gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung werden geeint durch eine vage Wut vor möglicherweise nicht recht einschätzbaren Lebensrisiken und Preiserhöhungen?

 

Francis Fukuyama sagte in einem am 3. Februar 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung auf Seite 33 veröffentlichten Interview: „Ein verrückt gewordener Nationalist oder ein islamischer Terrorist sind moralisch nicht zu verteidigen. Aber ich bin doch der Meinung, dass all diese Bewegungen sich in ihrer psychologischen Struktur ähneln. In jedem Fall geht es darum, dass Leute finden, ihre eigene Gruppenidentität erfahre unzureichende Anerkennung“.

 

Richard Sennett, US-amerikanisch-britischer Soziologe, formulierte bereits 2006 in dem Buch Die Kultur des neuen Kapitalismus im dritten Kapitel „Politik als Konsum“: „Im Zeitalter des sozialen Kapitalismus sorgten Belastungen des ökonomischen Systems für Ressentiments. Der Ausdruck bezeichnet ein Bündel von Emotionen, zu denen insbesondere das Gefühl gehört, dass einfache Leute, die sich an die Regeln halten, nicht gerecht behandelt werden. Das Ressentiment ist ein intensives soziales Gefühl, das sich häufig von seinen ökonomischen Ursprüngen löst und auf andere Bereiche überträgt. Es erzeugt Abneigung gegen die Bevormundung durch eine Elite oder auch Hass auf die Juden oder andere innere Feinde, die sich angeblich gesellschaftliche Vorteile verschaffen, auf die sie keinen Anspruch haben. In der Vergangenheit wurden Religion und Patriotismus unter dem Einfluss des Ressentiments zu Instrumenten der Rache… Obwohl das Ressentiment eine Realität darstellt, scheint es mir als entscheidendes Bindeglied zwischen Wirtschaft und Politik allzu eng, denn materielle Unsicherheit führt zu weit mehr als nur zur Dämonisierung der Galionsfiguren des unablässigen Wandels. Wir könnten tiefer in die alltägliche Erfahrung der Menschen eindringen, wenn wir die unterschiedlichen Arten untersuchen würden, mit denen die Menschen Neues, zum Beispiel neue Güter und Dienstleistungen zu konsumieren lernen. Dann könnte man nämlich feststellen, ob sie beim ‚Einkauf‘ von Politikern ebenso vorgehen wie beim Kauf von Kleidern. Statt als verärgerten Wähler könnten wir den Bürger auch als Konsumenten von Politik begreifen, der gewissen Kaufanreizen erliegt“.

 

Wie lief die gesellschaftliche Willensbildung in frühen demokratischen Gesellschaften ab? Bei den Germanen trafen sich die freien und kampffähigen Männer beim Thing und diskutierten über das, was zur Entscheidung anstand und die Mehrheit entschied. In Athen debattierten die Bürger auf der Agora und fällten hinterher ihr Urteil. Allerdings wurde bereits damals angezweifelt, dass die Entscheidungen stets weise ausfielen. Schon immer heuerten die Wohlhabenderen Claqueure und Denunzianten an, die die Entscheidungsfindung mittels Gerüchten und Fehlinformationen in ihrem Sinne beeinflussen sollten. Besonders empfindlich reagierten die Massen stets dann, wenn die Verleumder Gerüchte über Gotteslästerungen und Tempelschändungen verbreiteten. Kein Wunder: Beleidigte Götter, so der damalige Glaube, rächten sich mit Missernten, Erdbeben und anderem Unbill, so dass die Bürger vorsichtshalber auf Nummer sicher gingen und Gefährdern des Gottesfriedens wie Sokrates den Schierlingsbecher überreichten und damit das zu entscheidende Problem mitsamt möglicher unangenehmer Folgen rasch aus der Welt schafften.

 

In deutschen Landen zogen Herolde jahrhundertelang übers Land und verkündeten, was der Kaiser von Gottes Gnaden beschlossen hatte. Und die Bürger waren schon froh, wenn der Kaiser keine weiteren Steuern verkündete und nicht zu einem neuen Feldzug aufrief.

 

Ob das Volk sich mehr gefreut hätte, wenn der Herold à la Familienministerin Franziska Giffey eine „gute“ oder „starke“ Bulle verkündet hätte, dürfte keine Rolle spielen.

 

Richtig kompliziert wurde die öffentliche Meinungsbildung ab dem Jahr 1450, als ein gewisser Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, den Buchdruck mit beweglichen Metalllettern erfand und bald schon eine Vielzahl von Flugzettel und Pamphleten erschienen, die oftmals nicht den Willen der Herrschenden oder der katholischen Kirche widergaben.

 

Besonders ärgerlich wurde es für die Obrigkeit, als 1517 ein Mönch namens Martin Luther an der Schlosskirche in Wittenberg seine 95 Thesen anschlug und wenige Jahre später im „Exil“ auf der Wartburg anfing, die Bibel ins Deutsche zu übersetzten. Buchdruck und Reformation waren nicht nur Ausdruck einer neuen Zeit, sondern beförderten diese mit. Bis zur vollen Rede- und Meinungsfreiheit dauerte es noch Jahrhunderte.

 

Und heute? Noch immer drohen denen, die nicht im Mainstream mitpaddeln oder gar gegen den Strom schwimmen, mancherlei Unbill – weniger durch die Vertreter des Staates als durch selbsternannte Tugendwächter, die bei jedem Kritiker um Ruhe und Ordnung bangen und erst zufrieden sind, wenn der Status quo wieder hergestellt ist.

 

Wie können Veränderungen in der Zivilgesellschaft heute erfolgen? Kann man sie überhaupt noch lenken in Zeiten von Social Bots, Hate Speech und Empörungsjournalismus? Welche Optionen haben gesellschaftliche Gruppierungen, sich angesichts der unübersichtlichen Anzahl von Communities Gehör zu verschaffen?

 

Können Veränderungsprozesse heute rational, konfliktfrei und überzeugend erfolgen? Kann man die Mechanismen von professioneller Change-Kommunikation aus Unternehmen auf politisch-gesellschaftliche Prozesse übertragen?

 

Die Debatte über dieses Thema ist noch im Anfangsstadium. Das Whitepaper versucht das Terrain abzustecken und diskutiert Lösungsansätze.

 

Hans-Peter Canibol, Susanne Theisen-Canibol (Hrsg.)

Kommunikation in unübersichtlichen Zeiten

Mit Beiträgen von:

Martin C. Wolff: Zum strategischen Umgang mit Identität

Claudia Mauelshagen, Susanne Theisen-Canibol: Augenhöhe statt Manipulation

Ingrid Schneider, Claudine Villemot-Kienzle: Werte als systemische Schlüssel für Veränderungsprozesse

Alexander H. Engelhardt: Erfolgreich kommunizieren in Großprojekten

Matthias Dezes: Der Tod des Gatekeepers

Kurt E. Becker: Wahrheit und Lüge in der Kommunikation

Fakten + Köpfe Verlagsgesellschaft, Groß-Gerau 2019