Eduard Maass

Das Buch vom Abschied

Irgendwann kommt für jeden die Stunde des Abschieds vm Leben. Ich dachte bereits mehrmals: Jetzt ist es soweit. Aber die Canibols gehen nicht so schnell unter. Von mehreren türkischen Gesprächspartnern erfuhren meine Frau und ich, dass der Name Canibol im türkischen sinngemäß „viele Leben“ bedeutet. Bei mir sollte sich das bewahrheiten.

 

Beim ersten Mal war ich fünf Jahre alt, plantschte an einem heißen Sommertag in meiner Heimat Bottrop im Rhein-Herne-Kanal. Ich ging einen Schritt zur Mitte vor und versank in die Tiefe. Mir schwand unmittelbar mein Bewusstsein. Glücklicherweise tauchte mein Onkel Kurt direkt ins Wasser und hievte mich auf seine Luftmatratze. Ich spuckte eine Menge Wasser und startete in mein zweites Leben.

 

Es war etwa im Jahre 1980. Ich befand mich unweit des Bremer Rolands vor einem Kaufhaus von Karstadt. Neben mir stand eine Mutter mit einem etwa achtjährigen Jungen. Plötzlich gab es einen Knall. Etwa einen Meter neben uns war eine Dachpfanne auf das Pflaster gefallen und zerstoben. Mutter, Kind und ich schauten konsterniert nach oben sahen Dachdecker bei ihrer Arbeit. Ich dankte meinem Schutzengel, dass er mir ein weiteres Leben geschenkt hatte.

 

Arbeit für den Schutzengel

Beim nächsten gefährlichen Erlebnis, 1997, überschlug ich mich bei Glatteis auf der A57 zwischen Neuss und Dormagen und landete kopfüber im Straßengraben. Eingeklemmt, aber ansonsten unverletzt, versuchte ich, den ADAC herbeizurufen. Als ein Polizist an der Scheibe klopfte und fragte, was ich da täte gab ich zur Antwort, dass ich gerade dabei sei, den ADAC zu Hilfe zu holen. „Auf die Idee, dass Sie zuerst die Polizei rufen müssen, sind Sie nicht gekommen?“, fragt der erstaunte Staatsdiener. Irgendwie schafften wir es dann gemeinsam, mich aus dem Auto zu bugsieren. Mein viertes Leben begann mit dem Warten auf den Abschleppwagen.

 

Im Jahr 2007 gelangte ich auf der A3 Richtung Frankfurt auf Höhe der Ausfahrt Idstein bei vollem Tempo auf eine Glatteisspur. Mein Wagen rotierte, donnerte in voller Fahrt zwischen das erste Vorderrad und das mittlere Rad eines Lkws, rotierte erneut, bis ich schließlich liegenblieb. Die ungebremste Fahrt zwischen die beiden Räder erlebe ich hin und wieder im Traum in unruhigen Nächten. Zum Glück fuhr ich damals einen offensichtlich sehr robusten Outlander von Mitsubishi, der Totalschaden hatte, mich aber weitgehend unverletzt ließ. Der Lkwfahrer kümmerte sich nicht um den Zwischenfall und fuhr weiter, als ob nichts gewesen wäre. Gücklicherweise hielt ein hinter mir fahrender Autofahrer an und half mir, ein Warnschild aufzustellen. Ich war ziemlich angeschlagen und wäre ohne dessen Hilfe in meiner Konfusion möglicherweise auf der Autobahn herumgeirrt. Wie ich das ganze Malheur unbeschadet überstehen konnte, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich war dankbar, dass mir ein fünftes Leben geschenkt worden war.

 

Den Tod vor Augen

Im Jahr 2005 meinte ich, mein endgültiges Aus vor Augen zu haben. Bei einem MRT fanden die Radiologen vom Klinikum Höchst eine Geschwulst in meinem Gehirn, so groß, dass ich operiert werden musste. Der Schock traf mich deshalb besonders stark, weil bei meiner Mutter in den 1960er-Jahren ein Gehirntumor diagnostiziert worden war, der ihren Sehnerv zerquetschte. Die Operation gelang zwar, allerdings war sie in der Folge blind und wenige Jahre später wuchs ein neuer Gehirntumor, an dem sie 1967 verstarb. Ich war felsenfest überzeugt, dass ich ein ähnliches Schicksal erleiden würde. Von da an hatte ich meinen Tod vor Augen.

 

In der Zeit hatte ich sehr nah am Wasser gebaut. Ich konnte es überhaupt nicht kontrollieren. Jedem Gesprächspartner musste ich, der toughe investigative Journalist, meinen Zustand erklären. Mir war das unglaublich peinlich. Ich beschloss, mich auf meinen Tod vorzubereiten und hielt nach einer geeigneten Lektüre Ausschau. Empfohlen wurde mir von unserem Freund Albert Sellner (früher Lektor im Suhrkamp-Verlag) von Boethius der Trost der Philosophie. Der „letzte Römer“ Boethius war römischer Gelehrter, Politiker, neuplatonischer Philosoph und Theologe zur Zeit des in Ravenna residierenden Ostgotenherrscher Theoderich alias Dietrich von Bern. Dieser beschuldigte ihn des Hochverrats, ließ ihn zum Tode verurteilen, einkerkern und schließlich zwischen 524 und 526 hinrichten. Boethius verfasste in seiner jahrelangen Kerkerhaft seine berühmten Schrift „Trost der Philosophie“, ein ergreifendes Dokument menschlicher Selbstbehauptung. Er schließt damit, dass die Verheißung und Erfüllung göttlicher Vorsehung zur ersehnten Glückseligkeit führen werde. Ich konnte mit dem Büchlein wenig anfangen. Offen gesagt: Mit war es kein Trost.

 

Meine Operation ging gut aus. Infolge des Verlusts eines großen Teils meiner Hypophyse war mein Hormonpegel auf Null gefallen und ich hatte erhebliche Bedenken, ob meine geliebte Frau Susanne meinen Zustand akzeptieren könnte. Zum Glück wurde meine Liebe zu und Freude an meiner Frau Susanne durch die OP noch größer. Mir kamen die Freudentränen, als Susanne beim Erwachen aus der Narkose bei mir war und mir erzählte, dass sie während der OP zuhause meine Lieblings-CD mit dem Kanon von Pachelbel gehört und so die gesamte Zeit mit mir verbunden war. Mir war ein sechstes Leben geschenkt.

 

Es endete abrupt im August 2012, als ich einen schweren Schlaganfall erlitt. Glücklicherweise erfasste Susanne die Situation sofort. Sie lancierte mich noch sanft auf unser Sofa, so dass ich mich sicher hinsetzen konnte, dann rief sie den Rettungsdienst. Obwohl der innerhalb von zehn Minuten eintraf und ich sehr schnell versorgt war, kam es zu schweren Folgeschäden. Ohne ihre schnelle Reaktion wäre meine Überlebenschance gering gewesen.

 

Mein siebtes Leben

Wenn ich das alles zusammenzähle, bin ich inzwischen in meinem siebten Leben angekommen. Ich glaube kaum, dass ich noch einmal eine Chance bekommen. Aber man weiß ja nie ...  Alle Ereignisse waren wichtige Stationen in der Persönlichkeitsentwicklung. Nicht unterschlagen will ich, dass gerade die Krankheiten meine Familie insgesamt näher zusammengebracht haben. Da bin ich auch meinen Söhnen Marius und Simon sehr dankbar.

 

Vor kurzem fand ich auf dem Wühltisch des Groß-Gerauer Kaufhauses Braun „Das Buch vom Abschied“. Darin berichten mehr als 40 prominente Persönlichkeiten – unter ihnen Norbert Blüm, Paulo Coelho, Inge Jens, Hans Küng, Gregor Gysi und Veronica Ferres – über ihre Gedanken und Erlebnisse zum Thema Sterben, Tod und Trauer. Ich kaufte das Buch, las es mit Interesse und war fasziniert ob der sehr persönlichen Beiträge der Autoren. Am besten gefällt mir der Beitrag von Inge Jens, die sich bei ihrem dementen Ehemann Walter Jens nie sicher war, ob er noch leben wollte oder, weil er das Zerfallen seines Geistes mitbekam, ein raschen Tod bevorzugte. Ungemein berührend finde ich den Beitrag von Professor Niethammer, dem ehemaligen Geschäftsführenden Direktor der Universitätskinderklinik Tübingen, über den Umgang von todkranken Kindern mit dem eigenen Sterben.

 

Ich empfahl das Buch meinem guten Freund Alfons, der ehrenamtlich als spiritueller Begleiter in München tätig ist. Als tolles Kompliment empfand ich es, dass der das Buch so gut fand, dass er gleich drei weitere Exemplare kaufte und sie an Hospizgäste verschenkte.

 

– Peter –

 

Eduard Maass
Das Buch vom Abschied

Prominente Persönlichkeiten über Sterben, Tod und Trauer
Knaur Taschenbuch, München; 2012

Anicius Manlius Severinus Boethius
Der Trost der Philosophie / Consolatio philosophiae
(Zweisprachige Ausgabe Lateinisch – Deutsch)
Anaconda Verlag, Köln, 2006