Delia Owens

Der Gesang der Flusskrebse

„Chase Andrews stirbt, und die Bewohner der ruhigen Küstenstadt Barkley Cove sind sich einig: Schuld ist das Marschmädchen. Kya Clark lebt isoliert im Marschland mit seinen Salzwiesen und Sandbänken. Sie kennt jeden Stein und Seevogel, jede Muschel und Pflanze. Als zwei junge Männer auf die wilde Schöne aufmerksam werden, öffnet Kya sich einem neuen Leben – mit dramatischen Folgen. Delia Owens erzählt intensiv und atmosphärisch davon, dass wir für immer die Kinder bleiben, die wir einmal waren. Und den Geheimnissen und der Gewalt der Natur nichts entgegensetzen können.“ Mit dieser Beschreibung wirbt der Carl Hanser Verlag in seiner Edition Hanserblau für das Buch. So kann man die Geschichte lesen. Das verkauft sich gut.

 

Meine Geschichte mit Kya Clark ist eine andere. Es ist die Geschichte des Überlebens in der Einsamkeit – auch der Einsamkeit des Marschlandes, vielmehr aber noch der Einsamkeit als Mensch, der Verlorenheit zunächst eines Kindes, später der heranwachsenden Frau. Hier muss sich ein scheues Wesen in einer sie abweisenden, im wahrsten Sinne entfremdenden Welt behaupten: im täglichen Überleben, im Zugang zu Bildung, in Anerkennung. Nicht genug, dass sie die Mutter und die Geschwister mit dem prügelnden und zumeist stark alkoholisierten Vater allein lassen, bis auch der irgendwann in die Öde des Marschlandes nicht mehr zurückkehrt. Nicht genug, dass die Familie als Verlierer des amerikanischen Traums gesellschaftlich ausgegrenzt wird. Man lässt dieses Kind die ganze Härte der etablierten Gesellschaft spüren. In dem Augenblick, in dem sie es realisiert, ist es schon zu spät.

 

Kein Wunder, dass die Kleinstadtbewohner nicht einmal ihren Namen kennen. Kya ist für sie einfach nur das „Marschmädchen“. Ihr wird all das nicht zugestanden, was mit einem bürgerlichen Namen verbunden wäre. Es sind rassistische Mechanismen, die hier greifen. Und es verwundert nicht, dass diejenigen, die ihr helfen – und von denen sie Hilfe annimmt –, zur schwarzen Community der Kleinstadt gehören.

 

Das Kind Kya, das vor meinem inneren Auge heranwächst, ist das Alter Ego von Pippi Langstrumpf. Für Sie ist der Verlust der Familie die Katastrophe schlechthin, selbst wenn die emotionale Verwahrlosung in den gegebenen Lebensverhältnissen vorprogrammiert gewesen wäre. Statt die Freiheit zu genießen, kapselt sie sich in ihrer eigenen Welt ein, in den tiefsten Abgründen der Einsamkeit des Marschlandes, wo die Welt ganz unberührt ist, weil kein Mensch bis dorthin vordringen kann – dort, wo der Legende nach nur noch die Flusskrebse singen.

 

Dass dieser Roman ein Erstlingswerk ist, mag man kaum glauben. Nicht nur darin erinnert er mich an Harper Lee. Beeindruckend sind die erzählerische Reife und die Zartheit der Sprache, die im krassen Gegensatz zum Sujet steht. Delia Owens hat mich in eine Welt versetzt, in der ich das Meer riechen, die Weite sehen, den Wind und die Vögel hören und die Einsamkeit spüren konnte. Sie ließ mich die versteckte, aber tiefe Wut spüren, die nach Erlösung suchte. „Der Gesang der Flusskrebse“ hat mich so tief berührt, dass ich nach Beendigung der Lektüre mehrere Tage lang kein anderes Buch anrühren mochte. Danke.

– Susanne –

Delia Owens

Der Gesang der Flusskrebse

Carl Hanser Verlag, München; 2018