Sommer 2020. Seit nunmehr vier Jahren wohnen wir in unserem Haus in der Groß-Gerauer Schulstraße. Dieser zentral gelegene Ort der Kommunikation ist uns in den Jahren ein echtes Zuhause geworden. Leider können wir in diesem Corona-Sommer das nicht tun, was wir so gerne machen: Gäste empfangen. So genießen wir Wohnraum und Hof im ganz kleinen Kreis.
Im Sommer 2018 schrieb der Leiter des Stadtmuseums, Jürgen Volkmann: „Sie haben im historischen Siedlungskern von Groß-Gerau in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stadtkirche und zum Sandböhl ein Kleinod geschaffen, das geeignet ist, einen Teil der vorindustriellen Bausubstanz Groß-Geraus als Ackerbürgerstadt beispielhaft zu dokumentieren.
Diese Bausubstanz ist ja bekanntlich durch die starken Zerstörungen am Ende des 2. Weltkrieges im Kern Groß-Geraus weitgehend verschwunden und nur noch inselhaft nachvollziehbar. Ihr Anwesen ist zukünftig eine dieser nun im besonderen Maße präsentablen Inseln, die einen prägenden Teil der Groß-Gerauer Identität repräsentieren und insbesondere auch im Rahmen der von uns angebotenen Stadtführungen zukünftig vorgestellt und thematisiert werden. Ein weiterer Erfolg bei der Endauswahl wäre sicherlich geeignet, das in der Vergangenheit nicht so deutlich ausgeprägte Bewusstsein für das baugeschichtliche kulturelle Erbe in der Stadtgesellschaft zu schärfen und zu befördern.
Mai 2013. Ich betrete das erste Mal das Grundstück Schulstraße 13 in Groß-Gerau, bin hin und her gerissen. Von der Straße aus sieht das Haus sehr unscheinbar aus, bis sich das Tor öffnet und ich in der wunderbaren Torhalle stehe, deren starke Balken mich bis heute fesseln. Auf der Rückseite des Hauses die Sommerküche, dahinter ein Anbau hinter dem anderen. Es wirkt, als ob man für jede Gelegenheit hier Steine aufeinandergeschichtet, dort Latten zusammengezimmert, die Räume mal größer, mal kleiner, immer ohne Licht. Manchmal sind die ehemaligen Bestimmungen noch zu zu erkennen - wie beim Schweinekoben oder den Volieren. Überraschend: der große Garten, der sich hinter dem Haus auftut, im Frühjahr in wilder Schönheit blühend; die Hand der ehemaligen Besitzer beim Stecken der Blumenzwiebeln ist noch auszumachen.
Ich gebe es zu: Der erste Gang durch das Haus ist enttäuschend. Mein Gott! Was sollen wir damit anfangen? Die Räume eng, dunkel, die Stiegen mit ausgetretenen Stufen - in das Tonnengewölbe des Kellers und zum Dachboden so marode, dass Auf- und Abstieg gefährlich sind. Die Raumaufteilung ist verwirrend. Ergeschoss und 1. Etage lassen so gar keine Gemeinsamkeiten in der Raumaufteilung erkennen. Der Lichtblick: Ein wunderbares, großes, helles Zimmer im Obergeschoss.
Als ich von meiner ersten Besichtigung wieder in den Hof komme, geht mir durch den Kopf, dass kein Haus ungeeigneter ist für unser Vorhaben als dieses. Schließlich wollen beziehungsweise müssen wir weitgehend barrierefrei wohnen. Warum nur bin ich hergekommen? Und wie finde ich ein paar nette Worte für die Besitzerin, die auf den Stufen Ihres Elternhauses hockt und eine Zigarette raucht, so wie sie es wahrscheinlich an selber Stelle schon seit Jahrzehnten tut. Ich möchte ihr meine Enttäuschung nicht zeigen und suche vorsichtig das Gespräch, sondiere die Themen, mit denen der Besuch einen nicht ganz so negativen Abschluss findet.
Schließlich kommt die Sprache darauf, dass man das Grundstück zu einem Teil bebauen darf. Da ist Phantasie gefragt. Die windschiefen Anbauten wegdenken. Tanne, Zypresse und andere Bäume ausblenden. Den romantisch verwilderten Garten ignorieren. Und dann ein neues Gebäude im Kopf entstehen lassen: eingeschossig, ebenerdig, barrierefrei - mit viel Licht und Raum in die Höhe, um die fehlende Breite auszugleichen.
Beinahe trotzig, um es mir selbst zu beweisen, sage ich: "Das alte Haus wird unser Arbeitshaus und das private Wohnen bauen wir barrierefrei dahinter an." So soll es sein. So wird es kommen. Diesen Plan hatte mit Haus und Grundstück noch keiner verfolgt. Heute bin ich mir sicher: Sie haben auf uns gewartet.
Schaut man sich das Haus aus der Entfernung an, so fällt ein Knick auf, der das Gebäude in zwei Abschnitte teilt. Er ist Hinweis darauf, dass es sich um zwei Gebäudeteile aus unterschiedlichen Bauphasen handelt. Ein Gutachten vom Winter 2009/2010 durch das Büro für bauhistorische Gutachten Dr. Hans-Hermann Reck, Wiesbaden, im Auftrag des Landesamts für Denkmalpflege Hessen kommt zu den Schluss, dass der östliche Gebäudeteil vermutlich in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts errichtet wurde. Die Verlängerung des Gebäudes kann anhand einer dendrologischen Untersuchung der Dachsparren auf die Zeit um 1760 datiert werden. Das Erdgeschoss wurde 1909 umgebaut und erweitert. Der ursprüngliche Grundriss lässt sich im Obergeschoss sehr schön nachvollziehen. Das kleine, ältere Wohnhaus zeigt "einen zweizonigen Grundriss mit kleiner Küche zum Hof und straßenseitiger Stube" im Obergeschoss wird es ein bis zwei Kammern gegeben haben. Das Ungewöhnliche an dem Gebäude: Es stand mit der Traufe zur Straße, nicht mit dem Giebel, wie es sonst üblich war. Der Gutachter vermutet, dass das Haus wahrscheinlich schon vor der Verlängerung nach Westen in eine geschlossene Häuserzeile eingebunden war, so dass sich die Dachentwässerung zu Straße und Hof als sinnvolle Alternative zu einer giebelständigen Anordnung angeboten habe.
"Offensichtlich handelt es sich um einen im Zuge der starken, durch das Bevölkerungswachstum in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausgelösten Verdichtungswelle entstandenen Haustypus, bei dem die beengten Grundstücksverhältnisse die Firstdrehung verlangten oder zumindest als sinnvoll erscheinen ließen", stellt das Gutachten fest. Im Jahr 1909 wurden etliche Veränderungen im Erdgeschoss des Baus vorgenommen. So wurde der Wohnraum in die Torhalle hinein vergrößert.